Wieso das neueste Twitch-Feature gefährlich ist

Twitch arbeitet an der Einführung von bezahlten Boosts, die Streamern mit einem Geldeinsatz mehr Sichtbarkeit verschaffen sollen. Ein riskantes Geschäft.

Aktuell machen Berichte über eine neue Twitch-Funktion die Runde, die die Community rund um Amazons Streaming-Plattform ziemlich auf die Barrikaden schickt. Nachdem es unter anderem wegen Copyright-Problemen, invasiven Werbeeinblendungen, gesunkenen Abo-Preisen und dem aktuellen Leak immer wieder Aufschreie gab, steht nun mit den sogenannten Twitch Boosts ein angebliches Pay2Win-Feature im Brennpunkt.

Über den Autor
Dennis hat zwar selbst noch nie gestreamt, ist aber ein großer Twitch-Fan. Bei seinem Lieblings-Streamer Lirik entdeckt er immer wieder spannende neue Spiele und beim Dead-by-Daylight-Profi Otzdarva holt er sich Tipps für sein aktuelles Lieblingsspiel. Da ihm die Plattform mittlerweile ans Herz gewachsen ist und er genauso gerne beim Zocken zuguckt wie es selbst zu tun, verfolgt er stets die aktuellen Entwicklungen rund um Twitch genauestens.

Was macht Twitch neu?

Darum geht’s: Das sogenannte Twitch Boosting wurde ursprünglich im Dezember 2020 erstmals ausprobiert. In dieser Version konnten Zuschauer ihre Channel Points, die sie durchs bloße Zuschauen verdienen können, in einen Twitch Boost investieren. Statt mit den Punkten neue Emotes oder ähnliches freizuschalten, konnte man seinem Lieblings-Streamer eine bessere Sichtbarkeit verschaffen.

Die neue 2021er-Form des Twitch-Kanal-Boosts, die sich gerade in einer stark limitierten Beta-Phase befindet, erhöht nun auf dieselbe Art und Weise die Sichtbarkeit. Die neuere Variante des Boosts wird allerdings nicht mehr mit Kanalpunkten, sondern mit echtem Geld bezahlt. Twitch-Zuschauer können jetzt einfach auf eine Schaltfläche klicken, um ihre Kreditkarte zu belasten und ihren Streamer in die Empfohlen-Kategorie zu katapultieren. Kauft jemand 1.000 Boosts, erscheint der Stream dann dort bei 1.000 anderen Zuschauern.

Wieso ist das potenziell ein Problem?

Kaum verbreitete sich die Meldung über das neue Feature auf Reddit und Twitter, gab es auch schon die ersten Reaktionen von bekannten Streamern. So bezeichnete xQc, der aktuell meistgesehene Streamer auf Twitch, das Boosting als den dümmsten Scheiß, den er je zu Gesicht bekommen habe. Seiner Meinung nach sei die potenzielle Neuerung mit dem verbotenen View-Botting gleichzusetzen, da man sich mit beiden Methoden Reichweite für Geld verschaffen kann:

Sodapoppin, der ebenfalls zu den größten Stars der Plattform zählt, kommentierte das ganze mit dem von ihm gewohnt bissigen Sarkasmus:

Niemand interessiert sich für die kleinen Streamer, deshalb bekommen sie auch keine Views. Ich werde meinen Kanal wie verrückt boosten, um vorne zu bleiben. Bleibt klein und seid geliefert, Nerds.

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Seine Aussage bringt das größte Problem, trotz fragwürdiger Formulierung, auf den Punkt: Jeden Tag streamen zehntausende kleine Streamer und warten auf den großen Durchbruch. Talentierte Newcomer, die mit außergewöhnlichem Humor, Charisma oder kreativen Ideen punkten können, schaffen es trotz harter Konkurrenz noch oft, das Hobby zum Beruf zu machen – zum Beispiel die Supermarkt-Streamerin Hachubby, die dank ihrer witzigen Art einen kometenhaften Aufstieg schaffte:

Das Twitch Boosting könnte solche Geschichten verhindern, da durch die künstliche Beeinflussung des Algorithmus das organische Wachstum von kleinen Kanälen gehindert werden und eine Pay2Win-Situation entstehen könnte. Schaut ihr aktuell etwa regelmäßig Streams zu Age of Empires 2, werden euch im Empfohlen-Feed weitere AoE-2-Streamer empfohlen, die ihr bislang noch nicht auf dem Schirm hattet. Mit dem Boosting kann jeder, der ein bisschen Kohle in die Hand nimmt, sich diese Plätze sichern. Zwar sollen Streamer selbst keine Boosts für ihren eigenen Kanal kaufen können, aber ein Zweitaccount ist ja theoretisch schnell angelegt.

Unsere Einschätzung

Als jemand, der durchschnittlich mehrere Stunden Twitch pro Tag konsumiert, finde ich das neue Feature nicht nur problematisch, sondern auch gefährlich. Natürlich wird es insbesondere für kleine Streamer ärgerlich sein, wenn ihre Konkurrenten sich mit Echtgeldeinsatz oder zahlungskräftigen Zuschauern Vorteile erkaufen können, statt sich mit Qualität die Zuschauer zu verdienen.

Das größere Problem sehe ich aber in den parasozialen Beziehungen, die viele Zuschauer zu ihren Streamern haben. Viele Menschen schauen Twitch, weil es viel persönlicher und interaktiver als das klassische Fernsehen ist. Dadurch fühlen sich viele Zuschauer, als hätten sie eine persönliche Verbindung zum Streamer, obwohl sie für diesen nur ein Nickname im Chat sind. Spendet man regelmäßig Geld, merkt der Streamer sich womöglich den Namen oder befördert einen zum VIP. Die Beziehung wird enger, wenn das Idol die eigene Existenz anerkennt. Der fragwürdige Trend der virtuellen E-Girlfriends nutzt genau das gezielt aus, um Leuten viel Geld aus der Tasche zu ziehen. Viele Streamerinnen stehen sogar dazu und bezeichnen dies als Geld farmen.

Mit den Twitch Boosts wird nun eine weitere Möglichkeit ins Spiel gebracht, wie diese oft als Simps, Stans oder Ölprinzen bezeichneten Vielausgeber ihre persönlichen Stars unterstützen können. Nun allerdings mit einer kompetitiven Komponente, die es bislang so nicht gab. Möglicherweise könnte sogar ein richtiger Wettbewerb darum entstehen, wer seinen Streamer am höchsten pushen kann.

Doch warum macht Twitch das überhaupt? Ein offizielles Statement seitens Twitch liegt aktuell nicht vor. Dass man sich dort wünscht, dass besonders engagierte Anhänger sich durch ein kompetitives Boosten in den finanziellen Ruin stürzen, ist natürlich unwahrscheinlich. Sicher ist aber, dass die Streaming-Plattform genau diese Art von zahlungswilligen Zuschauern als Zielgruppe auserkoren hat. Wenn ein Zuschauer normalerweise seine 100 Euro über den externen Anbieter Streamlabs spendet, sieht Twitch keinen Cent davon. Lediglich mit den sogenannten Bits und Kanalabonnements wird Geld verdient, von der omnipräsenten Werbung mal abgesehen.

Mit dem Twitch Boosts wird nun eine neue Option geschaffen, die bei einer potenziellen Einführung eine wichtige Rolle für die Relevanz von Streamern spielen könnte. Natürlich wird es dann auch häufig statt einer Spende einen Boost geben. Und im Gegensatz zu Abos oder Bits muss Amazon hier nicht einmal was von dem ausgegebenen Geld an die Streamer abgeben. Twitch will sich wohl einfach ein größeres Stück der Ausgaben der Hardcore-Fans abschneiden.

Insgesamt stimmt mich die Situation aber auch nachdenklich, weil Twitch mit solchen Ideen zeigt, in welche Richtung sich einst tolle, Community-nahe Unternehmen entwickeln können. Da es im Streaming-Sektor aber an ernsthafter Konkurrenz mangelt, kann Amazon sich viel rausnehmen. Ich bin jedenfalls gespannt, ob das Boosting trotz heftiger Kritik bald für alle Streamer veröffentlicht wird. Sollte es dazu kommen, will ich nicht wissen, was sich der Streaming-Anbieter als nächstes ausdenken.

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